Iain Banks: Barfuß über Glas.

Roman.

Heyne Verlag München, TB 06/4852, 350 S., DM 12.80.



Iain Banks erzählt in seinem neuen Roman "Barfuß über Glas" drei sehr seltsame und befremdliche Geschichten, die auf raffinierte, unterschwellige Weise miteinander verknüpft sind.

Erstens gibt es da den Kunststudenten, der unrettbar verliebt ist in ein Mädchen, das ihn nur be- und ausnutzt in einer herrlich bösartigen Intrige, die sich schließlich zu einem Abgrund von Niedertracht ausweitet. Darin gibt es eine inzestuöse Liebe, einen nichtexistenten Macho und einen undurchschaubaren Schwulen, die auf die unerwartetste Weise miteinder zu tun haben.

Zweitens gibt es da den mehr als leicht meschuggenen Gelegenheitsarbeiter, dessen Wahnsystem von beängstigender Eindringlichkeit ist und dessen Leben aus lauter verqueren Regeln besteht. Er wird von Autos bedroht und aus Mikrowellenpistolen beschossen, und er trägt immer - immer! - einen Schutzhelm. Bis auf ein einziges Mal.

Drittens gibt es da ein älteres Paar, das in einer schier endlosen zerfallenden Burg an der Lösung eines unlösbaren Rätsels arbeitet und zu diesem Zweck unmögliche Spiele spielen muß: Eindimensionales Schach, ungepunktetes Domino... Die Burg selbst scheint mit ihren ständig in Umbau befindlichen Räumen und Gängen und den zugleich teuflischen und kindischen Dienerlein das eigentliche Rätsel zu sein.
Letzterer Handlungsstrang zeigt die einzigen Hinweise auf übliche SF-Szenarien; doch stellt man bald fest, daß die beiden vielleicht nur ein anderes Wahnsystem haben. öberhaupt überläßt Iain Banks viel dem Auge des Betrachters. Wenn sich zum Schluß die drei Handlungen zu einem abstrusen und überraschenden Knoten verschlingen, sieht sich der Leser selbst in der Notwendigkeit, dem Geschehen Sinn geben zu müssen. Und das bedeutet in diesem Fall: Er selbst, der Leser, muß dem seltsamen Spiel Regeln geben, den Knoten entwirren.
Und da bieten sich vielerlei Lösungen an. Wie wärs mit folgenden: Das Leben ist ein vorherbestimmter Film, der ohne unser Zutun abläuft. Oder: Die Welt ist ein persönliches Wahnsystem. Drittens: Die Mauer zwischen Normalität und Wahnsinn ist nurmehr ein hauchdünner Film. Viertens: Man kann die Wirklichkeit dieser verrückten Welt nicht mehr begreifen. Und so weiter. Um herauszufinden, welche Antwort die "richtige" ist, beginne ich das Buch abermals von vorn: Es ist immer noch ein beunruhigender Befund einer unsicheren Realität...
Bei aller Seltsamkeit: Alle drei Handlungsstränge schildern nur vertraute Dinge. Intrigen, Niedertracht, Unverständnis und Ablehnung erlebt jeder in der einen oder anderen Form. Banks liefert hochkonzentrierte, eindringliche Bilder davon, poetische Chiffren, die völlig eigenständig und unabgenutzt erscheinen. Eine der Figuren, Quiss (in der dritten Handlungsschicht), greift sich eine der unverständlichen Diener-Kreaturen und zieht ihr im Wortsinn die Hüllen ab, entblößt sie allen Scheins, und findet jenseits aller Schalen und Masken, als alle Verkleidungen abgestreift sind, nur ein ungreifbares und bahezu immaterielles Etwas, das sich rasch auflöst.
Zwar erschien dieser Roman unter dem Etikett "Science Fiction", doch hat er mit dem, was man sich landläufig darunter vorstellt, herzlich wenig zu tun. Er hätte auch bei Luchterhand, Hanser oder einem anderen Haus "edler" Literatur erscheinen können, in Leinen gebunden, dreißig Mark teurer und in allen Feuilletons besprochen. Er kann prima dazu dienen, die Bildung des Rezensenten herauszustreichen: Zu Jorge Luis Borges und Gabriel Garcia Marquez, Franz Kafka und James Joyce lassen sich gelehrte Verbindungen knüpfen, von Prädestination, Postmoderne, Existenzialismus und Entfremdung ließe sich reden. Aber was solls?
"Barfuß über Glas" gibt, soviel ist klar, eine beunruhigende Realität wieder, aber es ist eine beunruhigend vertraute. Und "Barfuß über Glas" wird erst im Kopf des Lesers zum Roman - bei jedem Leser zu einem anderen. Das macht den Text interessant und das Lesen auf eine ungewohnte Art spannend.

Zur Culture Shock Homepage über Banks, Iain M.


13.07.1997