Gottfried Meinhold
"Sein und Bleiben"

( Rostock : Hinstorff, 1989)

Auszug aus: "Wird die Science Fiction geplündert?" von Karsten Kruschel in: "Das Science Fiction Jahr" ( Bd. 7 - Ausgabe 1992)


Gottfried Meinholds fünftes Buch, sein erstes Buch, das beim besten Willen nicht ins SF-Regal gestellt werden kann, ist nichtsdestotrotz ebensowenig ohne den Einfluß der Science Fiction denkbar. Der Roman "Sein und Bleiben" (1989) ist, oberflächlich betrachtet, ein wenig zum Lesen anreizendes Buch: Es handelt von den Schwierigkeiten eines Schriftstellers, ein Buch zu schreiben. Ogottogott, denkt man, diese Intellektuellenbauchnabelpopeleien der sogenannten richtigen Literatur kennt man doch, todlangweilig und stilvoll bis zum Erbrechen. Dann kommt aber doch alles ganz anders.
Dieser Samuel Burk - sicher genausogut und ebensowenig ein alter ego des Autors wie der Rättinnenbesitzer bei Grass - will einen Roman schreiben über den Dritten Weltkrieg. Dieses Buch soll wahrhaftig sein, es soll nichts, aber wirklich gar nichts verschweigen, genau recherchiert sein, alles deutlich aussprechen, soll seine Leser aufwühlen und es ihnen unmöglich machen, fürderhin zu Kriegstreiberei jeder Art zu schweigen - ganz gleich, ob von Schadensbegrenzung, Bunkerbau, Abschreckung, begrenztem Atomkrieg, Nutzen des Wehrdienstes, sauberen Bomben, Vorwärtsverteidigung oder anderem selbstmörderischen Schwachsinn gelabert wird.
Samuel Burk wird auf diese wütende Idee durch die Lektüre von Büchern zum Thema gebracht.
Was er da liest, treibt ihm den Blutdruck hoch und läßt ihn sich entsetzen - in dieser Science Fiction wird so getan, als gebe es nach einem umfassenden Atomkrieg, und einen anderen gibt es nicht, noch irgendwelche Hoffnung auf ein Weiterleben. Da wird der Atomkrieg zum Herstellen einer attraktiven Ausgangsposition für eine spannende Handlung benutzt und so verharmlost; unfaßbar.
Natürlich gibt es Gegenbeispiele, aber die sind vergleichsweise dünn gesät; Mordecai Roshwalds Roman "Das Ultimatum" ist eines davon. Indem Roshwald beklemmend beschreibt, wie auch die in die tiefsten Bunker Geflüchteten sehr langsam, aber fürchterlich sicher und viehisch umkommen, erteilt er dem Gerede von Bunkerbau etc. (Siehe oben) eine vernichtende Abfuhr.
Meinhold kannte dieses Buch offensichtlich nicht; er kannte mit Sicherheit Robert Merles "Malevil" oder dessen miese Verfilmung, denn er wiederholt mehrmals, wie unverantwortlich er es findet, so bedenkenlos verharmlosend über den Nuklearkrieg zu schreiben (und daß sich das auf "Malevil" bezieht, kann man herauslesen). Nur hat Merle eben nicht über den Krieg geschrieben, sondern eines seiner soziologisch-psychologischen Experimente gestartet. Da wird eine überschaubare, aber hinreichend komplizierte Sozialstruktur unter extremen Bedingungen getestet, um die Tauglichkeit menschlicher Verhaltensmuster zu erproben. Merle macht das eigentlich immer, ob das Buch "Das vernunftbegabte Tier", "Madrapour", "Die geschützten Männer", "Die Insel" oder eben "Malevil" heißt. Und, genau hingelesen, bei Merle steht nicht, daß ein Atomkrieg stattgefunden hat; diese Information kann man hinein-, nicht aber herauslesen.
Von dieser kleinen Merle-Ehrenrettung aber abgesehen, hat Meinhold natürlich recht, wenn er den Umgang mit dem Thema in der SF verharmlosend und gefährlich nennt. Sein Samuel Burk macht sich bei Fachleuten kundig, vergräbt sich in physikalischer, medizinischer, klimatologischer, bakteriologischer Literatur; er liest alle erreichbaren Zeugnisse über Hiroshima und Nagasaki und versucht sich die Leiden der Strahlenopfer zu vergegenwärtigen; er schreibt einen 500-Seiten-Roman (der auf zwanzig Seiten in "Sein und Bleiben" nacherzählt wird), den er fortwirft, weil die Lektüre dieses Buches von keinem Leser auszuhalten ist.
Dieses Buch im Buch (S. 88-105) gehört zu den packendsten Stellen des Romans; wahrscheinlich packender, als es der komplette 500-Seiten-Wälzer gewesen wäre. Da leben die Helden in Neuseeland, und die Vernichtung trifft hauptsächlich Europa; es ist also ein Krieg nach dem Gusto mancher Pentagon-Strategen, die ja immer wieder vom begrenzten Kriegsschauplatz sprachen (eine Band namens Geier Sturzflug machte daraus den Song "Besuchen Sie Europa, solange es noch steht"). Man versucht zu helfen, aber es ist alles umsonst: Grauenvolle Verwüstungen überall, und die durchgegangenen Reaktoren der Kernkraftwerke, schwärende Wunden der Erde, überziehen alles mit heftig strahlendem Staub. Irgendwann werden die Wolken auch nach Neuseeland getrieben und in die anderen "verschonten" Weltgegenden. Nur mißgebildete Kinder werden geboren, und unter dem Einfluß der Strahlung mutieren nicht die Fauna und Flora, und schon gar nicht positiv (Meinhold hat recherchiert und weiß, wie gering die Rate lebensfähiger Mutationen bei so komplizierten Organismen ist), sondern die Mikroben verändern sich effektiv (Vermehrungsrate und Häufigkeit lassen da überlebensfähige Mutanten wahrscheinlich eher entstehen). Eine Lawine unbekannter Krankheiten, als hätte man Aids potenziert und wie Schnupfen übertragbar gemacht, begräbt die Menschen unter sich. Außerdem gerät das Klima aus allen Bahnen und vernichtet eins ums andere Mal die Ernten ... Und hier wird deutlich, was Burk falsch macht: Das Undenkbare, ultimat Schreckliche, das Grauen an sich, den totalen Tod kann man zwar schildern, aber nicht ertragen.
Burk bricht seine sozialen Kontakte ab, trennt sich von seiner Frau, entfremdet sich dem Sohn, beginnt den dem Tod zu leben, sieht die Welt jeden Tag, jeden Augenblick und mit vollem Bewußtsein als zerstörbar an. Die in jedem von uns unermüdlich arbeitenden Verdrängungsmechanismen schaltet er nach und nach ab; jeder Mensch, der seinen Verstand beisammen hat, verdrängt eine Un-Menge von eigentlich suizidverursachenden Informationen: Die Overkillkapazität der aufgehäuften Waffen, die ungeheuerlichen Risiken der Kernwaffenproduktion und -lagerung, die über unseren Köpfen und "unseren" Atomkraftwerken spazierenfliegenden Wasserstoffbomben, die überquellenden Giftgasdepots, die rasante Auslöschung von derzeit täglich zwei Arten des biologischen Lebens dieses Planeten und die Tatsache, daß auf der einen Seite wodkaabgefüllte Alkoholiker und auf der andern Marihuanaraucher und Kokser an den Doomsday-Computern sitzen und schon mal ein Bomber aus Versehen mit etlichen Dutzend von 100-Millionen-Leichen-Maschinen startet.
Das alles hat Burk jeden Augenblick im Kopf und im Gefühl. Es ist, als stelle man sich bei jedem Menschen, dem man begegnet, dessen modernden Leichnam vor und bei jedem Gebäude, das man sieht, dessen zerfetzte Reste. Kein Wunder, daß Burk eine Art Ungeheuer wird. Und eines Tages, ganz langsam, beginnt sein Körper damit, den Tod zu produzieren, eine seltene und gefährliche Krankheit entwickelt sich, bis Burk todkrank ist und nur durch den endgültigen Bruch mit seinem Buchprojekt zum Leben zurückkehrt,
Das Ergebnis der notwendigen Therapie ist das Buch namens "Sein und Bleiben"; keine SF, wie gesagt, aber ohne Science Fiction nicht denkbar.